10 Jahre nach den Anschlägen in Marokko
Casablanca-Opfer leiden bis heute
Vor zehn Jahren explodierten in der Millionenmetropole Casablanca mehrere Bomben. 45 Menschen starben. Die Anschlagsserie wirkte wie ein Schock für Marokko, das bis dahin kein Terrorziel war. Die Opfer leiden bis heute.
Von Alexander Göbel, ARD-Hörfunkstudio Rabat
16. Mai 2003, gegen 21 Uhr. Vierzehn junge Männer verstauen Bomben in ihren Taschen und steigen in die roten Taxis von Casablanca. Sie machen sich auf den Weg zu ihren Zielen.
Darunter ein italienisches Restaurant, ein jüdisches Gemeindehaus, ein Nobelhotel, ein jüdischer Friedhof und das Casa d'Espana, ein schicker Club, berühmt für seine Paella und die Bingo-Abende. Mohamed Mahboub war damals dort Geschäftsführer und erzählt: "Es ist als wäre es gestern gewesen: um zehn vor zehn am Abend stürmen drei Männer den Club, alle Mitte 20, alle mit Rucksäcken. Dem Türsteher schneiden sie die Kehle durch, niemand begreift, dass die Männer Terroristen sind, denn Terror kannten wir bis dahin nur aus dem Fernsehen. Im ersten Stock schleudert mich einer der Täter zu Boden, ich höre nur noch Allah Akbar - Gott ist groß - dann zündet er seine Bombe, alles fliegt in die Luft."
Zwanzig der insgesamt 33 unschuldigen Opfer sterben an diesem Abend allein im Casa d'Espana. Zehn Jahre später sitzt Mohamed Mahboub in einem Café in Casablanca. Eine lange Narbe verläuft über die linke Gesichtshälfte, die Bombe hat ihm einen Teil des Kiefers weggerissen. Ohne Albträume schläft er bis heute nicht, die Bilder von den vielen zerfetzten Leichen kann er nicht vergessen.
Die Terrasse des völlig zerstörten Casa d'Espana nach der Explosion
So geht es auch seinem Freund Mesbah Fiyach - er war am 16. Mai Gast im Casa d'Espana. "Ich saß am Tisch beim Abendessen, und dann verlor ich plötzlich das Bewusstsein. Als ich wieder wach wurde, war überall Blut, es war dunkel, mein linkes Auge war zerfetzt. Ich habe erst mal nicht begriffen, was passiert war."
Fiyach ist fast blind, fast taub, sein Körper ist voller Eisensplitter. Acht Jahre lang musste er jeden Tag zur Behandlung ins Krankenhaus. Seinen Beruf als Textilunternehmer musste er aufgeben, seit zehn Jahren ist der Familienvater arbeitslos - so wie Mahboub und viele andere, die die Anschläge schwerbehindert überlebt haben. Bis heute warten die Opfer auf Entschädigung, bis heute kämpfen sie auch gegen ihre Wut auf die Täter - junge Männer, die von Hasspredigern radikalisiert wurden. "Wir können einfach nicht verstehen, was diese Art von Terror mit dem Islam zu tun haben soll. Ich bin selbst Moslem, und der Islam ist eine friedliche Religion der Toleranz - Juden, Christen, Muslime - besonders hier in Marokko haben wir seit Jahrhunderten friedlich zusammengelebt", sagt Mahboub.
Bomben von Casablanca bis heute ohne Vergleich
Attentate hat es später wieder gegeben in Marokko. So wie etwa 2011 die Explosion im Touristencafé Argana in Marrakesch, als 17 Menschen ums Leben kamen. Doch die Bomben von Casablanca vor zehn Jahren sind bis heute ohne Vergleich. Die Täter stammten damals alle aus Casablancas Elendsviertel Sidi Moumen - heute sind hier die trostlosen Wellblechhütten zwischen den Müllbergen fast alle abgerissen, Sozialwohnungen werden hochgezogen, Schulen werden gebaut.
Hier wuchsen die Attentäter auf: Das Armenviertel Sidi Moumen. Einige Wellblechhütten stehen auch heute noch dort.
Radikalisiert im Gefängnis
Armut ist ein Nährboden für den Terror, das hat Marokkos Regierung begriffen. Doch seit 2003 zeigt der Staat auch Stärke. Im Zuge der Verhaftungswelle, die bis heute anhält, werden immer wieder auch Islamisten festgenommen, die nichts mit gewaltbereiten Salafisten zu tun haben. Für Abderrahim Mouhtad, der sich für die Opfer der Justizwillkür einsetzt, ein großer Fehler: "Heute sind es die Radikalen, die im Knast den Ton angeben. Viele Gefangene reden nur noch vom Dschihad, und dass sie den marokkanischen Staat ablehnen. Und im Internet gibt es sogar Seiten, auf denen Al Kaida Stellungnahmen und Videobotschaften von inhaftierten marokkanischen Islamisten veröffentlicht. Wenn sie in den Knast gehen, sind viele Glaubensbrüder noch moderat. Aber hinter Gittern werden sie dann zu Extremisten!"
Und die, so fürchtet Mouhtad, werden draußen gehört - vielleicht nicht in Sidi Moumen, dafür aber anderswo. Überhaupt, sagt Mohamed Benhammou vom Zentrum für Strategische Studien in Rabat, lasse sich Terror nicht mehr einfach einsperren oder lokalisieren.
"Terrorbekämpfung - da muss man dranbleiben"
Das müsse die eigentliche Lehre sein, zehn Jahre nach den Anschlägen von Casablanca, sagt Benhammou: "Beim Terrorismus ist es wie bei einem Topf Milch, den man auf dem Herd stehen hat: Man muss dranbleiben und jede Sekunde aufpassen, dass nichts überkocht. Spätestens seit dem Krieg in Mali oder Syrien haben wir es mit einer Zersplitterung der Terrorszene zu tun. Die Dschihadisten sind überall, und sie suchen sich neue strategische Ziele", sagt der Forscher. "Wir müssen wachsam sein - alle gemeinsam. Es kann jederzeit und überall wieder geschehen. Das Risiko ist immer da."
http://www.tagesschau.de/ausland/casabla...n-jahre100.html